Zweite Chance auf Schule
Fünf Jungen im Alter zwischen elf und 15 Jahren sitzen in einem Seminarraum an einzelnen Schultischen. Wie die anderen brütet auch Antonio über einem Arbeitsblatt. Er soll eintragen, was er in seinen bisherigen Lebensphasen gemacht hat, was ihm Spaß machte und was er gut konnte. „Fahrradfahren, Tanzen, Kochen“ steht in einer der Spalten seines „Lebensblattes“. Schule gehörte für den 14-Jährigen bisher nicht zu seinen Lieblingsorten. Es gab Stress mit den Mitschülern in der achten Klasse einer Marler Hauptschule. „Die haben mich fertiggemacht“, erzählt Antonio. Auch bei den Lehrer:innen fühlte sich der Marler nicht willkommen. „Ich habe meiner Mutter gegenüber Krankheiten vorgetäuscht – gesagt, ich habe Bauchschmerzen, um nicht zur Schule gehen zu müssen.“ 100 Fehltage hatte er zuletzt.
Irgendwann schaltete sich die Schulsozialarbeiterin ein, vermittelt Antonio in das AWO-Angebot „Schulverweigerung – die 2. Chance“. Das besucht der Jugendliche seit Beginn des Schuljahres im August nun an vier Tagen in der Woche von 9 bis 12.30 Uhr in den Räumen der AWO in der Rappaportstraße 8. „Am fünften Tag in der Woche ist Projekttag“, erklärt Monika Janczek, eine der beiden Fachkräfte in dem Projekt. „Da machen die Schüler:innen in der Regel etwas draußen.“ Ein mit selbstfotografierten Pflanzenbildern beklebter Aufsteller in Baumform zeugt von einem dieser Projekttage.
„Wir bekommen Materialien von den Schulen, haben aber auch eigene Arbeitsblätter zum Beispiel für Konzentrationsübungen“, so die studierte Sozialpsychologin weiter. Die Vermittlung bestimmter Lerninhalte stehe aber nicht an erster Stelle. Wichtiger sei, wieder eine feste Tagesstruktur zu etablieren und die Stärken und Kompetenzen der Jugendlichen zu identifizieren – sei es schulischer oder sozialer Art. Entsprechend stehen neben einzelnen Schulfächern wie Deutsch, Englisch, Naturwissenschaften und Gesellschaftslehre auch soziales Training, Berufsorientierung und die „Weltreise“, eine Art offener Erdkunde-Austausch, auf dem Stundenplan. Überforderung mit dem Schulstoff, aber auch Konflikte unter den Schüler:innen sollen vermieden werden, denn die seien oft die Gründe für die Schulverweigerung, so Janczek.
Auch bei Jason war Letzteres der Grund, dauerhaft die Schule zu schwänzen. Nach einem Wechsel von der Real- zur Hauptschule fand der damals Zwölfjährige in der neuen Klasse keinen Anschluss. „Die mochten mich nicht, und ich mochte die nicht“, berichtet der Junge. Von seinem siebten Schuljahr war er dann gerade einmal drei Wochen anwesend. Auch dass sich das Ordnungsamt einschaltete und ihn zu Hause abholte, nützte nichts. Das Jugendamt vermittelt ihn schließlich in die „2. Chance“, die er bereits seit gut einem Jahr besucht. Dies sei auch die typische Verweildauer der Jugendlichen in der Maßnahme, erklärt Monika Janczek. Das Ziel sei die Re-Integration in die Schule. Aktuell suche sie für Jason nach einer passenden Einrichtung. Eine Vermittlung in eine Gesamtschule scheiterte vorerst an mangelnden Plätzen.
Vielleicht wären sie ohne Corona schon weiter, so Janczek: „Die Pandemie hat uns zwei bis drei Monate zurückgeworfen.“ So fanden zwischen Dezember 2020 und März 2021 nur noch Einzeltreffen mit den Teilnehmer:innen der Maßnahme statt. Eine verlässliche Tagesstruktur war somit nicht umzusetzen. Zudem kamen drei der fünf derzeitigen Teilnehmer über das nicht funktionierende Homeschooling in den Schulen überhaupt erst in die Maßnahme; wegen technischer Hürden nahmen sie praktisch nicht mehr am Schulgeschehen teil.
Eine weitere mutmaßliche Folge der Pandemie: Psychische Probleme und Ängste nehmen bei Jugendlichen zu, beobachten Monika Janczek und ihre Kollegin Katharina Schalk – ein Trend, der sich zwar schon länger abzeichne, den Corona aber noch einmal verstärkt habe. Dies bestätigt auch die Studie der Bertelsmann Stiftung, der nach 64 Prozent der befragten Jugendlichen angeben, psychisch belastet zu sein. 69 Prozent habe mindestens zeitweise Zukunftsängste. Auch für Antonio kam der Lockdown nicht willkommen: „Das hat sich eher noch negativer ausgewirkt. Ich wusste gar nicht mehr, wer ich war.“ Hinter der Schulverweigerung stehe oft ein mangelndes Selbstwertgefühl, ergänzt Katharina Schalk: „Das versuchen wir durch Erfolgserlebnisse und positive Rückmeldungen zu stärken.“ Dazu trage etwa auch die tägliche Abschlussrunde bei, in der jeder sich bezüglich Pünktlichkeit, Mitarbeit und Verhalten einschätzen soll und Feedback erhält. „Die Schüler merken auf einmal: Ich kann ja auch was! Darin bestärken wir sie und geben auch den Familien Rückmeldungen über Erfolge. Das motiviert die wiederum, den Jugendlichen wieder stärker zu unterstützen.“
Bei Antonio scheint die Maßnahme bereits Früchte zu tragen: „Ich fühl mich hier wohl.“ Er will spätestens im nächsten Schuljahr wieder in eine normale Schule, ein Praktikum machen und später seinen Abschluss mit der Qualifikation zur Oberstufe erlangen, um Abitur zu machen. Angst vor dem Moment, in dem es zurück in die Normalität geht, habe er keine. „Sagen wir: Respekt. Aber wenn jemand sagt: Wie siehst du denn aus? Dann geht das hier rein und da wieder raus.“ Er zeigt dabei erst auf sein linkes und dann auf sein rechtes Ohr.
INFO
Schulverweigerung – die 2. Chance
Monika Janczek
Rappaportstraße 8
45768 Marl
Telefon 02365 9539821
Dieser Artikel stammt aus unserem Magazin „AWO erleben!“. Die gesamte Ausgabe steht hier zum Download bereit.