Unsere Aufgabe ist es, Hindernisse abzubauen
Über 50 Seiten plus 30 Seiten Anlage umfasst das Konzept allein für die „Besondere Wohnform Marl“, eine der fünf Wohnstätten der AWO im Unterbezirk, für die Alexandra Sollbach derzeit die Konzepte korrigiert, schreibt und koordiniert. Die Fachbereichsleiterin ist seit 2002 bei der AWO, zunächst als Leiterin der Wohnstätte in Marl, seit 2007 als Leitung der Wohnstätten Marl und Herten und ab 2012 als Leiterin der Wohnstätten Busfortshof in Gladbeck einer Wohnstätte für Menschen mit psychischen Erkrankungen. Seit 2017 ist sie vor allem für die wirtschaftlichen Bereiche der Wohnstätten zuständig. AWO erleben! hat mit ihr über Hintergründe und weitere Konsequenzen aus dem BTHG gesprochen.
AWO erleben!: Frau Sollbach, worum geht es bei den Konzepten, die Sie derzeit erarbeiten?
Alexandra Sollbach: Die Konzepte sind die Grundlage für unsere zukünftige Finanzierung und Ausstattung mit Personal und für die sogenannte Teilhabeplanung der Bewohner:innen. Wir beschreiben sehr kleinteilig die jeweilige Einrichtung, die fachliche Ausrichtung, die sachliche und personelle Ausstattung und das Angebot auf der Grundlage der Behinderungsarten und Bedürfnisse der Bewohner:innen. Wobei dies nun nach dem neuen System der ICF geschieht. ICF steht für „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit“. Auch das musste man sich erstmal alles aneignen. Im nächsten Schritt will dann der Landschaftsverband die Fachkonzepte bewerten und in die Einrichtungen kommen, um mit allen Bewohner:innen einzeln den Hilfebedarf zu ermitteln. Da wird die spannende Frage sein: Kriegen die Menschen ihren eigenen Bedarf gut beschrieben und vermittelt. Denn es ist noch unklar, inwieweit wir an diesen Gesprächen teilnehmen können.
AWO erleben!: Das Ganze steht im Zusammenhang mit der dritten Stufe des BTHG, die 2020 in Kraft trat – keine einfache Materie. Können Sie es in einfachen Worten erklären?
Alexandra Sollbach: Ich versuche es. Hintergrund ist die UN-Behindertenrechtskonvention, die 2009 ratifiziert wurde. Nicht erst seitdem ist Partizipation für uns Thema. Im BTHG geht es um die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung und darum, dass nicht mehr auf die Defizite und den Hilfebedarf geschaut wird. Der Helferbegriff soll nicht mehr verwandt werden. Es geht vielmehr darum, die Menschen zu befähigen, so viel wie möglich allein zu machen. Unsere Aufgabe dabei ist es, Hindernisse abzubauen. Es ist von einem Paradigmenwechsel die Rede. Ich behaupte allerdings: Ich habe noch nie anders gearbeitet. Ich habe mich immer als Krückstock für die Menschen verstanden, der sie befähigt, möglichst selbstständig zu leben. Trotzdem finde ich sinnvoll, dass sich die ganze Gesellschaft auf den Weg macht. Nur so kann Gleichberechtigung funktionieren.
AWO erleben!: Was sind aus Ihrer Sicht die wesentlichen Änderungen in den einzelnen Stufen des BTHG? Welche davon betreffen Ihre Arbeit und inwiefern?
Alexandra Sollbach: Die erste Reformstufe 2017 hat im Wesentlichen die Freibeträge für Vermögen unserer Bewohner:innen angehoben. Das Arbeitsentgelt in den Werkstätten wurde erhöht. Es gab Änderungen zur Beantragung von Mehrbedarf, und auch im Schwerbehindertenrecht hat sich etwas getan. Diese Stufe haben wir bei unserer Arbeit noch nicht so gemerkt, außer dass wir seitdem gesetzlich verpflichtet sind, die Führungszeugnisse von Mitarbeiter:innen anzufordern. In der zweiten Stufe seit 2018 sind zwei Teile aus dem achten Sozialgesetzbuch ins neunte gewandert und Regelungen zum neuen Gesamtplanverfahren sind eingeführt worden. Dies geschieht mit dem Instrument BEI_NRW, das aber noch nicht umgesetzt ist. Abgeschafft wurden die Hilfeplanungskonferenzen, bei denen neben den Kostenträgern und den Hilfesuchenden auch wir, also die Leistungsanbieter, und jemand von der Kommune mit dabei waren, um den Bedarf zu ermitteln. Das macht jetzt der Kostenträger mit Hilfeplaner:innen und den Betroffen selbst.
AWO erleben!: Wie bewerten sie das?
Alexandra Sollbach: Ich sehe das eher kritisch, weil mir dabei die Fachlichkeit mit Praxiserfahrung fehlt. Die Hilfeplaner:innen sind sicher gut ausgebildet, haben aber nicht so viel Erfahrung von dem, was in einer Wohnstätte oder im Alltag eines Menschen mit Behinderung oder einer psychischer Erkrankung passiert – können sie auch gar nicht. Die Mitarbeiter:innen in den Wohnstätten sind tagtäglich und rund um die Uhr mit den Menschen zusammen und haben entsprechend andere Einblicke. Selbst in den Hilfeplankonferenzen habe ich nie erlebt, dass jemand beispielsweise mal über das Thema oder Bedürfnisse im Umgang mit Sexualität gesprochen hat. Das ist aber ein Thema, das viele sehr beschäftigt.
AWO erleben!: Wenn die Hilfeplaner:innen bei den Kostenträgern beschäftigt sind, sind die ja auch in gewisser Weise befangen.
Alexandra Sollbach: Wir merken schon, dass Hilfeplaner:innen natürlich auch auf Kosten achten und dass Hilfesuchende nicht zu viel verlangen. Was ich gut finde, ist, dass Hilfesuchende selbst mehr in den Fokus rücken. Denn nicht alle, die zu uns kommen, möchten in einer Wohnstätte leben. Manchmal geht das auch eher von den Angehörigen aus.
AWO erleben!: Kommen wir zur dritten Stufe. Da gab es dann mehr Veränderungen, oder?
Alexandra Sollbach: Ja, im Grunde überlegen wir schon seit Anfang 2019, wie wir die Fachkonzepte schreiben und die geforderte Trennung der Leistungen ab Januar 2020 vollziehen können. Seit Jahresbeginn 2020 erhalten Menschen mit Behinderung, genau wie alle anderen, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können, Hilfeleistungen durch das Sozialamt, manchmal auch vom Jobcenter, wenn sie grundsächlich auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sind. Nur unsere Fachleistungen bezahlt weiterhin der Landschaftsverband. Das hatte zur Folge, dass wir Kosten für Wohnen und Verpflegung, also Mieten, Stromverbrauch, Essen und Getränke genau berechnen und von den Fachleistungen trennen mussten. Wir mussten jeden Quadratmeter erfassen und überlegen: Sind es Fachleistungs- oder Wohnflächen? Bei gemeinschaftlich genutzten Flächen mussten wir die entsprechenden Anteile berechnen. Manchmal reichte es, in Grundrisse zu schauen, manchmal mussten die Hausmeister vor Ort auch nachmessen. In der alltäglichen Arbeit führt das dazu, dass, wenn wir eine Packung Klopapier kaufen, uns fragen müssen: Wie viel davon ist für die Mitarbeiter:innen, also Fachleistungskosten, und wie viel davon ist für die Bewohner:innen? Das ist schon ganz schon tricky oder aufwändig, so dass wir dazu übergegangen sind, lieber separate Bestellungen zu tätigen.
AWO erleben!: Und vorher?
Alexandra Sollbach: Vorher war das alles in Grund-, Investitions- und Maßnahmepauschale aufgeteilt. Die Grund- und Investitionspauschale war bei allen Nutzer:innen gleich, die Höhe der Maßnahmepauschale richtete sich nach dem Hilfebedarf des Menschen mit Behinderung. Alle Kosten wurden mit dem Landschaftsverband abgerechnet.
AWO erleben!: Es ist also deutlich komplizierter geworden.
Alexandra Sollbach: Ja. Und die Menschen mit Behinderung schaffen es meist nicht allein, die entsprechenden Anträge bei den Sozialämtern, Wohngeldstellen und der Rentenversicherung zu stellen. Wir als Wohnstätte dürfen aber nicht helfen, weil der Landschaftsverband sagt: Dafür gibt es gesetzliche Betreuer:innen. Das ärgert mich. Als ich in der Behindertenhilfe anfing, haben wir genau umgekehrt dafür gesorgt, dass die Menschen ihre Angelegenheiten selbst ohne gesetzliche Betreuung regeln konnten.
AWO erleben!: Hört sich so an, als bewirke das Gesetz hier das Gegenteil von dem, was es ursprünglich sollte.
Alexandra Sollbach: An dieser Stelle ist das so. Das Gesetz wollte ja bewirken, dass jeder sein Geld hat und entscheiden kann, welche Unterstützung er oder sie braucht. Wir betreuen 198 Menschen in unseren Wohnstätten, und da ist nicht einer oder eine dabei, die die Sache selbst in die Hand hätte nehmen können. Das mag in anderen Einrichtungen anders sein, bei uns derzeit nicht.
AWO erleben!: Wo ist denn der handwerkliche Fehler gemacht worden?
Alexandra Sollbach: Mir kommt es so vor, dass die Menschen speziell in Wohnstätten beim Gesetzgebungsverfahren nicht gefragt wurden und kaum mitwirken konnten. Es waren zwar Betroffenenverbände beteiligt, aber vielleicht eher solche, in denen sich Menschen mit einer Körperbehinderung engagieren. Diese Umstellung hat bei den Bewohner:innen zum Teil große Ängste ausgelöst. Die dachten, sie verlieren ihr Zuhause, weil es nicht mehr Wohnstätte heißt, sondern „besondere Wohnform“. Die Bewohner:innen heißen auch nicht mehr Bewohner:innen, sondern Nutzer:innen. Sie fühlen sich mit dieser Umfirmierung nicht richtig wertgeschätzt. An diesen Stellen geht das Gesetz tatsächlich an den Menschen vorbei. Vielleicht ist das aber in der nächsten Generation schon wieder anders.
AWO erleben!: Was erwarten Sie von der letzten Stufe des BTHG, die 2023 in Kraft treten soll?
Alexandra Sollbach: Noch etwas darüber zu erfahren, wie die neuen Zugänge zur Eingliederungshilfe dann konkret gestaltet sein werden. Zudem soll der Personenkreis, der die Hilfe kriegen soll, neu bestimmt werden. Da bin ich gespannt, wie sich das ändert. Bis heute fallen Leute mit einer Lernbehinderung raus aus der Hilfe. Vielleicht wird da zukünftig noch mal anders hingeguckt.
AWO erleben!: Was würden Sie sich wünschen? Wo könnte konkret nachgebessert werden?
Alexandra Sollbach: Ich wünsche mir eine Entbürokratisierung und mehr Zeit, um die Teilhabe für die Bewohner:innen gut begleiten zu können, und dass unsere Arbeit und die Leistung in den Wohnstätten angemessen betrachtet und adäquat bezahlt werden.
AWO erleben!: Jetzt haben wir viel Kritik geübt. Hat sich durch das BTHG denn auch etwas verbessert?
Alexandra Sollbach: Die Menschen haben zum Teil etwas mehr im Portemonnaie, müssen davon aber auch mehr bezahlen, wie zum Beispiel ihre Bekleidung. Den Grundgedanken des BTHG finde ich ja gut. Aber wir haben überhaupt keine Möglichkeit, an dem eigentlichen Ziel zu arbeiten, dass die Gesellschaft auch zulassen muss, Menschen mit Behinderung die gleichen Chancen zu geben.
AWO erleben!: Vielen Dank für das Gespräch!