Sprechen wir über Verteilungsgerechtigkeit
Melanie Angermund: Niemand kann seriös behaupten, dass die Bundesregierung in den vergangenen Monaten nicht etliches unternommen und geplant hätte, um Entlastungen zu organisieren: Tankrabatt, Neun-Euro-Ticket, Energiepauschale, höherer Grund- und höherer Kinderfreibetrag bei der Einkommenssteuer, Gaspreisbremse, Strompreisbremse, Streckbetrieb und so weiter. Es wäre allerdings hilfreich gewesen, wenn die Pläne deutlich früher vorbereitet worden wären.
Michael Groß: Es ist natürlich sehr zu begrüßen, dass die Bundesregierung relativ schnell reagiert hat. Relativ. Aber leider behandelt sie Ungleiches gleich. Wir müssen das Geld dort konzentrieren, wo es unbedingt benötigt wird. Das sind die unteren Einkommensgruppen und diejenigen, die in der Grundsicherung sind. Selbst die untere Mittelschicht hat jetzt Probleme, die Energiekosten zu bezahlen oder befürchtet es zumindest. Die tatsächlichen Kosten sind ja noch gar nicht bei allen angekommen.
Melanie Angermund: Die bisherigen Maßnahmen wie der Tankrabatt waren oft wenig zielgerichtet und kamen in großem Umfang auch den höheren Einkommensgruppen zugute. Dabei sollten möglichst nur Haushalte entlastet werden, die die Energiepreise nicht verkraften können. Also besonders Menschen mit wenig Geld, die einen wesentlich höheren Anteil ihres Einkommens für Miete und Lebensmittel ausgeben als Haushalte mit höherem Einkommen. Die Inflation trifft die 20 Prozent mit niedrigsten Einkommen doppelt so stark wie die zehn Prozent Topverdiener.
Michael Groß: Was ich aus den Schuldner- und Sozialberatungen höre, sind die Situationen dramatisch; insbesondere bei älteren Menschen. Bei Rentner:innen und in Familien, die auf Grund ihrer teilweise geringen Einkommen bereits vor den ersten Preissteigerungen Probleme hatten, über ihren Alltag zu kommen, werden sich die Toasttage, in denen gar nichts mehr im Kühlschrank ist, vermehren. Diese Menschen benötigen Geld für den dicken Pullover. Den sollen wir im Winter ja bekanntlich alle überziehen, um die Heizung etwas runter drehen zu können. Allein auch dieser Pullover muss irgendwann ersetzt werden. Das ist mitunter sehr dramatisch.
Melanie Angermund: Soziale Mobilität, also der Wechsel zwischen den Klassen, nimmt immer mehr ab. Während in den Achtziger- und Neunzigerjahren noch 71 Prozent der damaligen 30- bis 39-Jährigen der Aufstieg in die Mittelschicht gelang, schaffen dies inzwischen nur noch 61 Prozent dieser Altersgruppe. Menschen wie ich, die ohne Studium Geschäftsführerin geworden sind, gibt es immer seltener. Entscheidend sind Faktoren, die wir selbst nicht beeinflussen können: Herkunft, Einkommen der Eltern, Vermögen, Erbe. Anders gesagt: Der Stallgeruch entscheidet über Karrieren.
Michael Groß: Und dadurch, dass die Inflationsrate bei Lebensmitteln bei 20, 30, mitunter sogar bei 60 Prozent liegt, und bei den Energiekosten ja fast ähnlich hoch sein wird, sind viele Familien, Rentner:innen, Alleinerziehende verzweifelt. Diese Familien sind regelrecht erschöpft. Diese Erschöpfung wird in unsere Einrichtungen transportiert.
Ich habe mit vielen haupt- und auch ehrenamtlich Tätigen gesprochen. Alle berichten mir unisono: Das, was wir die letzten Monate erleben, geht schlicht über unsere Belastungsgrenzen hinaus. Und die Situation der Betroffenen wird sich im kommenden Jahr noch deutlich verschlimmern.
Melanie Angermund: Wann immer von Wohlstandsverlust gesprochen wird, ist nur ein be-stimmter Teil der Gesellschaft gemeint. Zwölf Euro Mindestlohn ändern daran nicht genug, denn sie stammen aus einer Zeit vor der Inflation. Aktuelle Studien zeigen, dass mehr als 40 Prozent der Menschen in Deutschland weder Rücklagen noch Vermögen haben. Vom VW Golf oder dem neuesten iPhone können viele nur träumen. Und je weniger Mobilität es zwischen den Klassen gibt, desto verhärteter werden diese, desto mehr fehlt das Verständnis für die jeweils andere Klasse.
Michael Groß: Ich hätte mir gewünscht, dass mit dem Doppelwumms zielgenauer unterstützt worden wäre. Wir müssen aufhören in Deutschland über Chancengerechtigkeit zu reden. Das Thema ist Verteilungsgerechtigkeit! Erzieher:in oder Pfle-ger:in, die ja Facharbeiter:innen sind, bekommen ein Gehalt, mit dem sie über 100 Jahre arbeiten müssten, um das Jahresgehalt eines Dax-Vorstandes zu verdienen. Man muss sich immer vor Augen führen, wie unterschiedlich in Deutschland Einkommen und Vermögen verteilt sind. Ich will jetzt gar nicht im Detail auf die Vermögen eingehen, die ja in der Hand einiger weniger Menschen sind. Auch beim Thema Energie und Energiekosten muss man über Verteilungsgerechtigkeit sprechen. Es ist zwar in der Expertenkommission gesagt worden, dass man versuchen muss, die Subventionen zu deckeln, aber ich sehe das noch nirgendwo, dass dies auch mit politischer Kraftanstrengung geschieht.
Melanie Angermund: Die Gaspreisbremse, die Bürger:innen und Firmen einen Teil der stark ge-stiegenen Gaskosten abnehmen soll, ist sinnvoll, keine Frage, aber sozial ungerecht. Ein Beispiel sind die Kapitalertrags- und Gewinnsteuern, die in den vergangenen Jahren gesenkt wurden – auch hier wurde politisch eher an Reiche als an Arme gedacht. Als die Mehrwertsteuer in der Pandemie gesenkt wurde, nutzte das vor allem wohlhabenden Menschen. Bei armen Menschen waren es nur Centbeträge.
Michael Groß: Wenn Subventionen nicht mit der Gießkanne verteilt würden, stünde auch mehr Geld für diejenigen zur Verfügung, die besonders sozial benachteiligt sind. Kurzum: Mehr Konzentration auf diejenigen, denen wenig Geld zur Verfügung steht. Die Erhöhung der Grundsicherung um 50 Euro ist viel zu wenig. Das reicht bei der prognostizierten Inflationsrate hinten und vorne nicht. Wir benötigen einen Mechanismus, um die Sätze unterjährig anheben zu können. Das ist ein großes Versäumnis. Eine unterjährige Anhebung der Grundsicherung oder des Bürgergeldes wird bereits 2023 zwingend notwendig werden.
Melanie Angermund: Ich halte eine Gegenfinanzierung der Entlastungen für sinnvoll, da die Energiekrise den Staat stark belastet. Der Spitzensteuersatz von 42 Prozent gilt bisher für zu versteuernde Einkommen von knapp 60.000 Euro. Ab knapp 280.000 Euro sind es 45 Prozent. Ein zeitlich befristeter Energie-Soli oder ein höherer Spitzensteuersatz, den vier Millionen Deutsche oder fünf Prozent aller Bürger zahlen müssten, würde die Zielgenauigkeit des Gesamtpakets erhöhen und signalisieren, dass die Energiekrise solidarisch bewältigt werden muss.
Michael Groß: Das ist absolut richtig. Auch beim Thema Energie muss man über Verteilungsgerechtigkeit reden. Wir sind uns alle einig, dass wir eine sozial-ökologische Transformation benötigen. Wir müssen aber auch darüber reden, wie man diese ausgestaltet. Die CO2-Bepreisung ist ein Marktmechanismus, der zu sozialen Ungleichheiten führt. Alle Maßnahmen wie die EEG-Umlage abzuschaffen oder Pendlerpauschale zu erhöhen, führen dazu, dass die hohen Einkommen stärker profitieren. Menschen mit geringen Haushaltseinkommen und kleinem ökologischem Fußabdruck werden durch diese Maßnahmen weniger gefördert, weil sie eben nicht so viel Strom verbrauchen und nicht von Förderprogrammen profitieren. Ich habe noch keinen Mieter getroffen, der mir gesagt hätte, er reduziert seine steigenden Energiepreise, in dem er sich ein Solarpaneel aufs Dach legt oder eine Wärmepumpe kauft. Diese Möglichkeit nutzen Menschen, die Eigentum und Geld besitzen. Diese Menschen nutzen Förderprogramme. Das ist gut und richtig, um eine Energiewende herbeiführen zu können, ist zugleich aber auch ungerecht.
Melanie Angermund: Die Bundesregierung sollte sich trauen, mehr über Gesetze, Normen und Vorgaben zu regulieren, als an Marktmechanismen zu glauben. So könnte man gezielt bestimmte Zielgruppen bevorzugen.
Michael Groß: Der Kauf von drei Tonnen schweren E-Autos, die sehr große Batterien benötigen, um mit 160 über die Autobahn zu jagen. wird gefördert. Die Gewinnung der Rohstoffe für die Batterien in anderen Ländern ist zum Teil ökologisch zu hinterfragen. Von der Wiege bis zur Bahre im Lebenszyklus keine ökologische Meisterleistung. Der verbrauchte Ökostrom wird dringend an anderer Stelle benötigt. Wir brauchen Gesetze, Regeln und Normen, die Verbrauch, Gewicht und andere Maßstäbe definieren und keinen Marktmechanismen, die immer für Ungleichheit sorgen.
Melanie Angermund: Ein weiteres Beispiel für eine Reichen-Politik ist übrigens das 49-Euro-Ticket. Von der Regierung gefeiert, zeigt diese Entscheidung, wie weit sich politisches Handeln von den 16 Prozent der Deutschen entfernt hat, die von Armut betroffen sind. Für die Teilhabe kein selbstverständliches Recht, sondern ein täglicher Abwägungskampf ist. Denn für sie ist der Unterschied zum Neun-Euro-Ticket immens und in vielen Fällen nicht leistbar.
Michael Groß: Das 49-Euro-Ticket bringt keine wirkliche Entlastung für die Zielgruppen, die um jeden Euro kämpfen müssen, die mobil sein wollen und müssen – es geht ja um alltägliche Dinge wie die Fahrt zum Arzt. Die Möglichkeit mit diesem Ticket bis nach Sylt fahren zu können, ist dann auch keine Hilfe. Das ist keine Alltagsfrage. Das neun Euro-Ticket war dagegen eine echte Entlastung der Haushaltseinkommen in der Alltagsmobilität. Ein weiterer Punkt ist, dass die Wohlfahrtspflege bislang nicht in den Hilfspaketen berücksichtigt wurde. Auf Bundesebene wird gesagt, wir sollen durch Hilfsfonds der Länder und Kommunen entlastet werden. Eine Regelung gibt es noch gar nicht, geschweige denn einen gesetzlichen Anspruch. Die Städte und Gemeinden sind durch die Fluchtbewegung aus der Ukraine und den weltweiten Krisenregionen bereits so belastet, dass es sprichwörtlich wie bei dem nackten Mann oder Frau ist, der man auch nicht in die Tasche greifen kann. Der Bund hätte die Länder auf ihre grundgesetzliche Verantwortung hinweisen müssen, die Kommunen finanziell zu entlasten, damit diese Hilfspakete für die Wohlfahrtspflege und soziale Einrichtungen auflegen können. Für die ambulante Pflege wird es möglicherweise eine Lösung durch die Pflegeversicherung geben, auch wenn es schwierige Verhandlungen werden. Alle anderen Ambulanten Dienste, die durch die Städte oder Landschaftsverbände refinanziert werden, trifft es unmittelbar. Bislang weiß noch niemand, ob es überhaupt ein Entlastungspaket gibt. Das ist scharf zu kritisieren, dass das noch nicht mitgedacht ist.
Melanie Angermund: Die allgemeine Angst vor dem Winter steigt. Das Instrument der Gaspreisbremse trägt auch nicht zur Entspannung bei. Niemand weiß, wieviel hilft mir die Einmalzahlung im Dezember, was bedeutet die Entlastung ab Februar oder März. Familien, die bereits vor und dann noch einmal während Corona etwa durch Kurzarbeit finanziell stark belastet sind, bekommen diese Energiekrise jetzt quasi on top dazu. Diese Menschen können nicht mehr sparen – sie haben schon vorher die billigsten Dinge des täglichen Bedarfs gekauft. Die Energiekrise kommt langsam, aber zunehmend und spürbar bei uns in den Beratungsdiensten an. Die Zahlen steigen in einer ungeheuren Dynamik. Und das ist kaum die Spitze des Eisbergs, weil die meisten Menschen sich aus Scham gar nicht erst beraten lassen. Die stumme Not wächst rasant und gefährdet den sozialen Frieden in unserer Region.
Michael Groß: Es gibt die Studie „Die Übergangenen“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Interviews in benachteiligten Quartieren kamen zu einem eindeutigen Ergebnis. Die Menschen finden alle Themen, die die große Politik bespricht wichtig, aber sie haben Sorge, dass durch die Prioritätensetzung ihre Quartiere noch mehr benachteiligt werden, weil das Geld anders verteilt wird, als nach Ansicht dieser Menschen notwendig wäre. Da geht es um Fragen von Freizeitangeboten für Kinder, medizinischer Nahversorgung, Ausgestaltung der Kitaplätze und Lebensqualität im Umfeld. Alles Dinge, die man in seiner Nachbarschaft für wichtig hält. Die Menschen bemängeln, dass über sie hinweg diskutiert wird und nicht mit ihnen. Das ist der Grund, warum sich viele Menschen zurückziehen und politisch für uns verloren sind. Auch in einer Demokratie.
Melanie Angermund: Die Folge sind antidemokratische Denkweisen und Protestwähler:innen. In einer Demokratie nicht wählen zu gehen, ist ein Ausdruck von Enttäuschung. Parteien zu wählen, die eine menschenverachtende oder inhumane Politik vertreten, ist dann der zweite Schritt. Vor dieser Entwicklung habe ich ein bisschen Angst ...
Michael Groß: Ich glaube, Politik muss sich ganz grundsätzlich besser erklären und mutiger sein in seinen Entscheidungen. Politik benötigt klare Profile, damit die Menschen Positionen haben, über die sie diskutieren können, an denen sie sich reiben, mit denen sie Ideen entwickeln können. Das gilt für die große Politik. Vor Ort müssen wir ganz eng bei den Menschen sein. Die über 200 Quartiersprojekte der AWO sind hierfür ein guter Ansatz. Hier holen wir die Menschen aus ihren Wohnungen heraus, in dem wir sie aufsuchen. Damit kann man Menschen in gesellschaftliche Prozesse einbinden. Einsamkeit und Isolierung sind der Nährboden für eine Abkehr von der Demokratie. Deshalb brauchen wir starke Quartiere.
Melanie Angermund: Für eine starke Quartiersarbeit braucht es starke Kommunen, die in die Lage versetzt werden müssen, solche Projekte zu finanzieren. Quartiersarbeit ist nicht nur Sozialarbeit, sondern auch Infrastruktur, gute Nachbarschaften und personelle Ressourcen, die einen dabei unterstützen, sich einbringen zu können, gehört zu werden. Ressourcen, die helfen, sich politisch einzumischen. Das ist eine zweite Ebene der Verteilungsgerechtigkeit. Wir müssen auch in benachteiligten Quartieren die Möglichkeit schaffen, dass die Menschen dort genauso gehört werden wie die des Bildungsbürgertums.
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Michael Groß
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Melanie Angermund
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www.awo-msl-re.de
Dieser Artikel stammt aus unserem Magazin „AWO erleben!“. Die gesamte Ausgabe steht hier zum Download bereit.