Hoch hinaus statt arm
16 Meter ragen die Kletterwände im Neolit Kletterzentrum in Essen in die Höhe. Erst zögerlich, dann immer sicherer hangelt sich Fatma* an den kleinen Vorsprüngen immer weiter nach oben. Bei etwa drei Metern lässt sie sich fallen und – schwebt, getragen vom Sicherungsseil, zurück zum Boden. Die Elfjährige klettert beim Projekt „Hoch hinaus“ des StartPunktes Gladbeck zum ersten Mal in einer Kletterhalle. „Wir wollen mit diesem Programm bewusst Kinder und Jugendliche erreichen, die sonst nicht die Möglichkeit haben, solche Aktivitäten zu unternehmen“, erklärt die pädagogische Mitarbeiterin Maike Häser-Berns.
Das Programm richtet sich an alle elf- bis 13-jährigen Kindern aus dem Umfeld des StartPunktes. Fatma etwa hat über ihren Bruder davon erfahren, den ein Mitarbeiter über die Sozialpädagogische Familienhilfe im Alltag begleitet – genau wie etwa 45 weitere Familien. „Wir betreuen viele Familien, bei denen die Kinder oder Eltern mit der Organisation des Alltages überfordert sind: alleinerziehende Mütter im Niedriglohnbereich oder ganz ohne Arbeit, teils mit Erkrankungen wie Depressionen, wo manchmal dann auch noch Schicksalsschläge dazukommen.“ StartPunkt-Leiterin Lisa Galla ergänzt: „Genauso begleiten wir aber auch Familien, wo die Eltern voll berufstätig sind; auch Akademiker sind darunter. Hauptsächlich werden wir in erzieherischen und pädagogischen Fragen zu Rate gezogen. Dahinter steckt dann aber oft mehr, beziehungsweise müssen wir erstmal andere Probleme angehen.“ Das reiche vom Aufbau einer geregelten Tagestruktur bis hin zur Beantragung von Geldern wie Arbeitslosen-, Wohn- oder Elterngeld oder Unterhalt.
Hier wiederum spiele soziale Benachteiligung bis hin zu Armut oft eine Rolle. Der Mangel an finanziellen Möglichkeiten gehe zudem oft mit einer mangelnden Kompetenz im Umgang mit den knappen Ressourcen einher, so die Diplom-Pädagogin: „Oft werden Prioritäten falsch gesetzt, und das Geld fehlt dann, um Anschaffungen für die Kinder zu tätigen oder einen Sportverein oder eine Musikschule zu bezahlen. Gerade auch, wenn es um Dinge für die Kinder und Jugendlichen geht, die außer der Reihe anstehen, wie ein Ausflug oder ein Kino- oder Konzertbesuch. Das ist dann einfach nicht mehr drin.“
Zudem nutzten viele Eltern Kinderfreibeträge oder auch Zuschüsse über das Bildungs- und Teilhabepaket nicht, weil sie gar nicht davon wissen oder die Antragstellung eine Hemmschwelle sei. Deswegen unterstützt auch Lisa Galla die AWO-Forderung nach einer einkommensabhängigen Kindergrundsicherung mit pauschalen Geldleistungen. „Die Gelder müssten dann nicht erst bei verschiedenen Stellen und mit verschiedenen Anträgen abgerufen werden, sondern würden gebündelt bei den Eltern ankommen.“ So aber seien die Kinder oft auch von Freizeit- und Bildungsangeboten bei Vereinen, Jugendzentren oder ähnlichen Stellen ausgeschlossen. Die ungleichen Bildungschancen habe die Corona-Pandemie noch einmal besonders deutlich offengelegt und verstärkt. Lisa Galla: „Viele Familien hatten zum Beispiel keinen eigenen Drucker, um den Kindern die Unterlagen für den Unterricht zu Hause auszudrucken. Ebenso mussten viele Schülerinnen und Schüler auf Onlineplattformen zugreifen, um ihre Aufgaben einzusehen oder die Ergebnisse hochzuladen. Kaum ein Kind verfügte aber über einen eigenen Laptop oder ein Tablet und auch ihre Eltern nicht. Oftmals mussten sie also alles über ein kleines Handydisplay abrufen, um überhaupt an den Unterrichtsstoff zu gelangen.“
Die fehlenden Freizeitmöglichkeiten während der Lockdowns – „viel Zeit drinnen, keine Abwechslung im Alltag, kompletter Ausfall von allen Hobbys oder Sportarten“ – hätten sich wiederum auf die Psyche der Kinder negativ ausgewirkt. Auch deswegen bietet der StartPunkt neben dem Lernhilfeprojekt „Aufholen nach Corona“ und einem zweiwöchentlichen Frühstück für alleinerziehende Mütter auch Ausflüge, ein tierpädagogisches Angebot oder eben das Projekt „Hoch hinaus“ an, zu dem neben dem Klettern auch Besuche etwa des Bottroper Tetraeders oder der Trampolinhalle Tiger Jump in Oberhausen gehören.
„Wir wollen so das Selbstbewusstsein der Kinder stärken“, erklärt StartPunkt-Mitarbeiterin Maike Häser-Berns. „Und beim Klettern bekommen die Kinder und Jugendlichen sehr schnell Erfolgserlebnisse. Die können auch nach drei Metern schon total stolz sein, wenn sie das geschafft haben.“ So wie die elfjährige Fatma. „Das hat Spaß gemacht“, sagt sie und huscht mit einem blonden Mädchen schnell zur nächsten Kletterwand.
INFO
StartPunkt Gladbeck
Lisa Galla
Krusenkamp 24
45964 Gladbeck
Tel.: 02043 20642260
* Name geändert
Dieser Artikel stammt aus unserem Magazin „AWO erleben!“. Die gesamte Ausgabe steht hier zum Download bereit.