Endlich anpacken

Immer mehr ambulante Pflegedienste verschwinden lautlos von der Bildfläche. Patient*innen bleiben unversorgt oder werden an andere Dienste weitergereicht. Pflegedienstleitung Susanne Brandt und Martina Waldner, Abteilungsleiterin Gesundheit im Unterbezirk Münsterland-Recklinghausen, erklären, was den Pflegediensten das Leben so schwer macht.

Text: Sophia Schalthoff
Eindrucksvoll: Der geparkte Autokorso vor dem Recklinghäuser Rathaus. Foto: AWO Unterbezirk Münsterland-Recklinghausen

Lautstark hupend fuhren die vielen roten und weißen Pflegedienstfahrzeuge langsam in einem Korso um den Recklinghäuser Stadtwall. Damit verschafften sich die ambulanten Pflegedienste aus dem Kreis Recklinghausen beim Aktionstag „Endlich Pflegereform anpacken – sonst können wir einpacken“ der Ruhrgebietskonferenz Gehör. Denn die Lage in der Pflege ist prekär. Laut einer Umfrage der Diakonie im vergangenen Jahr befürchtet jeder zehnte von den 562 befragten Trägern, das Aus in diesem Jahr. Etwa ein Drittel der ambulanten Dienste verfüge nur noch über eine Liquiditätsreserve von drei Monaten. Was heißt das konkret? Was bedeutet das für den eigenen Vater, der auf Pflege angewiesen ist? Für die kranke erwachsene Tochter, die ohne ambulanten Pflegedienst nicht eigenständig wohnen kann?

„Nichts Gutes“, sagt Martina Waldner. „Im Grund bedeutet das, dass Angehörige mehr Pflege leisten müssen. Wer keinen Angehörigen hat, bleibt dann unterversorgt.“ Um ganz deutlich zu werden: „Im schlimmsten Fall stirbt dann jemand alleine zu Hause, weil er einfach nicht die Pflege bekommt, die er benötigt. Und das wäre mit einer besseren Versorgung zu verhindern gewesen!“ Die Abteilungsleiterin Gesundheit im Unterbezirk Münsterland-Recklinghausen seufzt und sagt: „Das hätte ich mir nicht erträumen lassen.“ Frust macht sich bei ihr und Susanne Brandt, Pflegedienstleitung Herten, breit. Fachkräftemangel, steigende Energie- und Material-Preise, erhöhte Personalkosten – alles Faktoren, die den Pflegediensten zurzeit die Arbeit schwer machen. „Eigentlich strampeln wir uns in alle Richtungen ab“, versucht Susanne Brandt die Lage zu erklären. „Ich glaube, es ist schwierig, das begreiflich zu machen. Denn es sind nicht nur diese drei Faktoren. Es ist der tägliche Kampf, der müde macht.“ Sie berichtet aus dem Alltag des ambulanten Pflegedienstes: „Eine Kundin mit einer psychischen Erkrankung. Die Pflegefachkräfte erkennen eine zunehmende Verschlechterung der Erkrankung und beantragen bei der Pflegekasse weitere Leistungen, um die Kundin besser betreuen zu können. Die Pflegekasse beauftragt ein Gutachten. In der Zwischenzeit geht es der Kundin so schlecht, dass sie in eine Klinik eingewiesen werden muss. Nach acht Wochen Wartezeit gibt es einen Termin mit dem Gutachter. Jetzt geht es der Kundin dank Klinikaufenthalt wieder etwas besser und der Gutachter entscheidet, dass ein höherer Pflegegrad nicht notwendig sei“, erzählt Susanne Brandt. „Nur wie lange hält der Zustand an, bis es ihr wieder schlechter geht?“ Mit einer besseren Versorgung durch den Pflegedienst könnten Klinikaufenthalte und Verschlechterungen der Krankheit vorgebeugt werden. Und so die Kosten für einen stationären Aufenthalt gespart werden. Schlimm empfindet Susanne Brandt dabei das Misstrauen des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung den Pflegekräften gegenüber. „Man vertraut uns nicht. Den Expert:innen, die ganz nah an den Patient:innen arbeiten. Oftmals bleibt das Gefühl, dass es uns extra schwergemacht wird. Und das auf dem Rücken der Menschen, die auf uns angewiesen sind.“

„Im schlimmsten Fall stirbt dann jemand alleine zu Hause, weil er einfach nicht die Pflege bekommt, die er benötigt. Und das wäre mit einer besseren Versorgung zu verhindern gewesen!“

Martina Waldner

Prüfungen, Kontrollen und Genehmigungsverfahren der Kostenträger und Aufsichtsbehörden sorgen für Frust und verhindern schnelle Hilfen. All das trägt nicht dazu bei, den Pflegeberuf attraktiver zu machen. Schon jetzt fehlen überall Fachkräfte. Rund ein Drittel der Beschäftigten in der Pflege sind über 55 Jahre alt. Das bedeutet, dass sich im Jahr 2030 jede:r zweite Schulabgänger:in für einen Gesundheitsberuf entscheiden müsste, um den prognostizierten Bedarf zu decken. Im Jahr 2030 werden 130.000 Pflegekräfte fehlen, 1.1 Millionen Pflegebedürftige blieben so unversorgt – dabei sind die jüngst veröffentlichten Zahlen von Gesundheitsminister Lauterbach noch gar nicht berücksichtigt. „Ein Kreislauf, der uns schwer zu schaffen macht. Mit weniger Personal können wir weniger Patient:innen versorgen und haben dadurch dann wirtschaftliche Verluste“, erklärt Martina Waldner.

Die gestiegenen Lebensunterhaltungskosten­ brin­­gen wiederum neue Situationen mit den Kund­:­innen des Pflegedienstes. „Die Menschen feilschen mittlerweile um die Leistungen, weil sie das Pflegegeld für andere Dinge des täglichen Bedarfs benötigen“, erzählt Susanne Brandt. „Miete und Energiekosten haben da einen höheren Stellenwert als Pflege- oder Hauswirtschaftsleistungen.“ Das Pflegegeld wird direkt an die Pflegebedürftigen ausgezahlt, sodass dieses dann auch „zweckentfremdet“ verwendet werden kann. „Natürlich können wir die Menschen verstehen, trotzdem sorgt das dafür, dass sie letztlich unterversorgt bleiben. Das ist manchmal nur schwer zu akzeptieren.“ Verzweiflung macht sich dann breit. Es muss sich viel ändern, damit die Pflegekräfte mit einem guten Gefühl ihrer Arbeit nachgehen können. Aber: „Wir sind bereit, Pflege mitzugestalten, wenn man uns nur lässt“, sagt Martina Waldner.

INFO

Abteilung Gesundheit
Martina Waldner
Clemensstraße 2-4
45699 Herten
Tel.: 02366 1091128

Dieser Artikel stammt aus unserem Magazin „AWO erleben!“. Die gesamte Ausgabe steht hier zum Download bereit.